Instituts-Nachricht
Wissenschaftler*innen sind seit langem von der Komplexität und Anpassungsfähigkeit le-bender Organismen fasziniert. Ein bahnbrechendes Projekt, das von Dr. Aneta Koseska am Max-Planck-Institut für Neurobiologie des Verhaltens - caesar in Bonn koordiniert wird, zielt darauf ab, ein erstaunliches Konzept zu enthüllen: dass sogar einzelne Zellen die Fähigkeit besitzen, von ihrer Umgebung zu lernen. Diese Initiative wurde mit einem prestigeträchtigen Synergy Grants des Europäischen Forschungsrates (ERC) für Dr. Koseska, Alexander von Humboldt Professor Dietmar Schmucker von der Universität Bonn, Prof. Jordi Garcia-Ojalvo von der Pompeu Fabra Universität in Barcelona und Prof. Jeremy Gunawardena von der Harvard Medical School in Boston gewürdigt. Die Förderung in Höhe von 11.2 Mio. Euro ermöglicht dem Forscherteam zu untersuchen, wie einzelne Zellen interne Repräsentation ihrer Umgebung erzeugen.
„Wir glauben, dass Zellen nicht nur passive Einheiten sind, die vordefinierte Programme ausführen“, sagt Dr. Koseska, Leiterin der Lise-Meitner-Forschungsgruppe Zelluläre Komputationen und Lernen. „Stattdessen verarbeiten sie aktiv Informationen, bilden interne Modelle ihrer Umgebung und nutzen diese Modelle, um kontextabhängige Entscheidungen zu treffen - ganz ähnlich wie beim Lernen.“
Verschiedene Modellorganismen zur Enthüllung grundlegender Mechanismen
Die Forschung wird sich auf eine breite Palette von Modellorganismen konzentrieren, darunter Bakterien wie Bacillus subtilis, einzellige Eukaryoten wie Paramecium und Tetrahymena, neuronale Zellkulturmodelle und Nervenzellen im Gehirn der Fruchtfliege Drosophila melanogaster. „Durch die Untersuchung so unterschiedlicher Organismen hoffen wir, grundlegende Prinzipien aufzudecken, die das Lernen auf zellulärer Ebene steuern“, erklärt Dr. Garcia-Ojalvo. „Dieser vergleichende Ansatz ermöglicht es uns, Mechanismen zu identifizieren, die sich über verschiedene Lebensformen hinweg erhalten haben, und bietet einen einheitlichen Rahmen, der verschiedene Bereiche und Größenordnungen der Biologie miteinander verbindet“
Von Einzelzellen zu komplexen Nervensystemen
Ein Ziel des Projekts ist es, zu untersuchen, wie einzelne Nervenzellen während der Gehirnentwicklung Verzweigungen bilden, stabilisieren oder wieder zurückbilden. Dieser Prozess erzeugt stereotype synaptische Muster unter höchst unterschiedlichen Bedingungen. Durch Einblicke in diese Mechanismen will das Team grundlegende biologische Fragen beantworten, wie Lernen und Gedächtnis auf zellulärer Ebene entstehen. „Zu verstehen, wie Nervenzellen präzise Verbindungen herstellen, ist entscheidend für die Entschlüsselung der Funktionsweise von Nervensystemen“, erläutert Dr. Schmucker. „Wir wollen herausfinden, wie einzelne Nervenzellen lernen, Verbindungen zu bilden – trotz der Komplexität und Variabilität ihrer Umgebung.“
Eine umfassende Theorie des zellulären Lernens
Das interdisziplinäre Team führender Wissenschaftler*innen, das im Rahmen des Projekts mit dem Titel „CeLEARN: Learning in Single Cells Through Dynamical Internal Representations“ (Lernen in Einzelzellen durch dynamische interne Repräsentationen) vereint Fachwissen aus den Bereichen Informationstheorie, dynamische Systeme, Zellbiologie und neuronale Entwicklung. Durch die Verknüpfung von Konzepten der Informationstheorie zur Quantifizierung vorhersagbarer Informationen mit der Theorie dynamischer Systeme zur Umsetzung interner Modelle, strebt das Team die Entwicklung einer integrierten Theorie des Lernens auf Zellebene an. Diese Theorie soll Einblicke geben, wie einzelne Zellen interne "Gedächtnis"-Codebücher entwickeln und Informationen aus ihrer sich wandelnden Umgebung nutzen, um kontextabhängige Reaktionen in Echtzeit zu steuern.
Infragestellung traditioneller Auffassungen über das Verhalten von Zellen
Traditionell werden Zellen als passive Ausführende genetischer Anweisungen angesehen, die auf Umweltsignale meist in vorbestimmter Weise reagieren. Diese Forschung stellt dieses Paradigma jedoch infrage und geht davon aus, dass Zellen aktiv interne Repräsentationen ihrer komplexen Umgebung erzeugen. Dieses neue Konzept könnte unterschiedliche Bereiche der Biologie zusammenführen und neue Ansätze für die Forschung eröffnen. „Eine breitere und allgemeine Definition des Lernens auf zellulärer Ebene dient als vereinheitlichender Rahmen, der sich auf das umfangreiche Wissen stützt, das in den Kognitionswissenschaften, der Psychologie und den Neurowissenschaften für Tiere erworben wurde.“, so Dr. Gunawardena. „Sie verbindet verschiedene Ebenen der Biologie, von Einzellern bis hin zu komplexen neuronalen Netzwerken, und bietet eine Grundlage für die Beantwortung grundlegender biologischer Fragen.“
Ein Blick in die Zukunft
Die im Rahmen des CeLEARN-Projekts gewonnenen Erkenntnisse werden sich voraussichtlich tiefgreifend auf unser Verständnis davon auswirken, wie Zellen lernen und sich anpassen. Durch die Identifizierung der molekularen Mechanismen, die dem Lernen von Einzelzellen zugrunde liegen, könnte die Forschung den Weg für innovative Therapien für Krankheiten ebnen, die auf zellulären Funktionsstörungen beruhen, und so zur Entwicklung neuer Technologien beitragen, die sich die Lernfähigkeit von Zellen zunutze machen.
Dr. Aneta Koseska
Dr. Aneta Koseska ist eine Vorreiterin im Bereich der „Berechnungen“ in natürlichen Systemen. Sie hat gezeigt, wie vorübergehende Dynamiken die Fähigkeit von Signalnetzwerken in Säugetierzellen beeinflussen, flexibel auf Informationen von außen zu reagieren und sie zu verarbeiten. Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich darauf, grundlegende Prinzipien für biochemische Berechnungen und Lernprozesse in einzelnen Zellen und einzelligen Organismen aufzuklären.
ERC Synergy Grants
Der Europäische Forschungsrat (ERC), der 2007 von der Europäischen Union gegründet wurde, ist die wichtigste europäische Förderorganisation für exzellente Pionierforschung. Er fördert kreative Forscher aller Nationalitäten und jeden Alters, die Projekte in ganz Europa durchführen, im Rahmen von 4 verschiedenen Förderprogrammen. Der ERC Synergy Grant richtet sich an eine Gruppe von zwei bis maximal vier "Principal Investigators", die zusammenarbeiten und unterschiedliche Fähigkeiten und Ressourcen einbringen, um ehrgeizige Forschungsprobleme anzugehen. in 2024 wurden 56 von 540 evaluierten Anträgen bewilligt. Das Gesamtbudget des ERC für den Zeitraum 2021 bis 2027 beläuft sich auf mehr als 16 Milliarden Euro und ist Teil des Programms Horizont Europa.
Hier geht es zur Pressemitteilung der Universität Bonn.
Hier geht es zu einem Interview mit Aneta Koseska im Bonner General-Anzeiger