Max-Planck-Institut - für Neurobiologie des Verhaltens — caesar

Forschungs-Nachricht

Motorische Kontrolle: komplexer als erwartet

Stell dir vor, du nimmst die Welt nur mit deinen Fingerspitzen wahr – nicht indem du etwas festhältst, sondern indem du beim Vorbeigehen sanft über Oberflächen streichst. Jede kurze Berührung liefert einen Hinweis: eine Textur, eine Kante, eine Krümmung. So erkunden Ratten ihre Umgebung. Sie tasten Objekte aktiv mit ihren Tasthaaren ab. Aber wie kann das Gehirn die Bewegung eines einzelnen Tasthaars so präzise steuern? Unsere Forschenden fanden heraus, dass daran überraschend viele Hirnareale beteiligt sind – darunter auch Regionen, die bisher nicht mit motorischer Kontrolle in Verbindung gebracht wurden und sogar Bereiche, die traditionell mehr mit Wahrnehmung und Kognition assoziiert sind. Diese Ergebnisse, veröffentlicht im renommierten Fachjournal PNAS, eröffnen neue Perspektiven zum Verständnis, wie das Gehirn Bewegungen koordiniert.

Forschende unser Forschungsgruppe In Silico Brain Sciences haben die Areale im Rattengehirn identifiziert, die die Bewegung eines einzelnen Tasthaars beeinflussen. So wie Menschen ihre Fingerspitzen als feinfühliges Tastsystem nutzen, verwenden Ratten ihre Tasthaare, um ihre Umgebung zu erkunden und sich zu orientieren. Sie dienen als feine Sensoren, die entweder synchron während des sogenannten „Whiskings“ oder in komplexen Mustern gezielt bewegt werden, um die Position, Form und Beschaffenheit nahegelegener Objekte zu erfassen. Die dabei entstehenden sensorischen Signale werden über ein gut organisiertes neuronales Netzwerk weitergeleitet und erreichen schließlich eine Region im sogenannten somatosensorischen Kortex, einem Teil der Großhirnrinde, in dem die Informationen jedes einzelnen Tasthaars von einem spezialisierten Netzwerk an Nervenzellen verarbeitet wird. Doch wie sieht es mit der motorischen Steuerung dieses Systems aus? Wie kontrolliert das Gehirn die komplexen Bewegungen einzelner Tasthaare?

Um diese Frage zu beantworten, rekonstruierten unsere Forschenden jene Netzwerke im Rattengehirn, die die Muskeln eines einzelnen Tasthaares steuern. Die Ergebnisse zeigen: Nicht nur die bereits bekannten motorischen Hirnreale, sondern auch zahlreiche andere Regionen im Kortex – einschließlich somatosensorischer Bereiche sowie Bereiche in beiden Gehirnhälften – sind maßgeblich an dieser Steuerung beteiligt.
„Es war überraschend zu sehen, dass der Großteil der Signale der Großhirnrinde, die zu dem Muskel eines Tasthaares führen, nicht aus dem primären motorischen Kortex stammt. Offensichtlich ist das kortikale Netzwerk für die motorische Steuerung weitaus komplexer als bisher angenommen“, erklärt Erstautor Aman Maharjan, Doktorand in der Forschungsgruppe In Silico Brain Sciences.

Unsere Forschenden untersuchten zum Vergleich auch, welche Hirnareale an der Steuerung von Pfotenbewegungen beteiligt sind. Die kortikalen Karten für Tasthaar- und Pfotenmuskeln überlappten sich teilweise, wiesen aber auch deutliche Unterschiede auf. „Unsere Studie zeigt, dass es im Rattengehirn grundlegende Unterschiede bezüglich der Kontrolle von Tasthaaren und der Kontrolle von Pfotenbewegungen gibt. Zudem deuten die Ergebnisse auf bemerkenswerte Unterschiede zwischen den motorischen Systemen von Nagetieren und Primaten hin“, erklärt Professor Marcel Oberlaender, Leiter der Forschungsgruppe In Silico Brain Sciences.

Diese Studie entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Labor von Prof. Dr. Peter L. Strick an der University of Pittsburgh School of Medicine (USA).

Die Studie wurde am 3. Juni 2025 in den Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS) veröffentlicht.

Hier geht es zur Veröffentlichung

Schematische Zeichnung einer Ratte mit einer mikroskopischen Aufnahme, die Nervenzellen im Gehirn zeigt, die an der Steuerung der Schnurrhaare beteiligt sind.
MPINB

Mikroskopische Aufnahme von Nervenzellen im Gehirn, die an der Steuerung der Tasthaare beteiligt sind.

Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an:

Prof. Dr. Marcel Oberlaender
Max Planck Forschungsgruppenleiter