Forschungs-Nachricht
Unsere Forschenden haben einen neuen Versuchsaufbau entwickelt, der Messungen bei krabbelnden Fliegen ermöglicht. Die Fliege selbst ist in dem Aufbau zwar befestigt, befindet sich aber auf einem schwebenden Ball und ihre Umgebung ändert sich in Echtzeit entsprechend ihrer Bewegungen. Die Fliege „läuft“ somit in ihrer eigenen virtuellen Realität. Mit diesem Versuchsaufbau konnte gezeigt werden, dass sich Fliegen an einen bestimmten Ort erinnern und ihn wiederfinden können. Die Forschenden haben mit dieser Apparatur zudem die Voraussetzungen geschaffen, um die Aktivität winziger Nervenzellen stabil zu messen, während ein Tier natürliches Verhalten zeigt.
Wir alle wissen, wie schwer es ist, Fliegen im Flug zu erwischen. Dies liegt an ihrem exzellenten Sehsinn. Die Fruchtfliege Drosophila zeigt ein breites Spektrum an visuell gesteuerten Verhaltensweisen und wird auch aus diesem Grund oft als Modellorganismus in der neurobiologischen Forschung eingesetzt. Sie ist unter anderem in der Lage, sich bestimmte Orte anhand ihres Aussehens zu merken – eine enorme Leistung für das winzige Fliegengehirn! Forschende versuchen seit langem zu verstehen, was auf Ebene der Nervenzellen hinter dieser beeindruckenden Gedächtnisleistung steckt. Eine große Schwierigkeit besteht aber darin, dass stabile Messungen von Nervenzellen bei einer frei herumkrabbelnden Fliege bisher unmöglich sind.
Johannes Seelig, Leiter der Forschungsgruppe Neuronale Schaltkreise und sein Mitarbeiter Andres Flores-Valle haben, gemeinsam mit der hauseigenen Werkstatt des MPINB, einen neuen Versuchsaufbau entwickelt, der diese Schwierigkeit umgeht. Eine am Rücken fixierte Fliege befindet sich hierbei inmitten einer um mehrere Achsen drehbaren Versuchsarena mit optischen Markierungen. Ein kleiner Ball wird per Luftstrom unter der Fliege gehalten, so dass die Fliege auf diesem in jede beliebige Richtung „laufen“ kann. Diese Bewegungen werden aufgezeichnet und in Echtzeit auf die Versuchsarena übertragen, so dass sich die gesamte virtuelle Umgebung entsprechend um die Fliege dreht. Um gezielt das Ortsgedächtnis der Fliege zu untersuchen setzen die Forscher einen klassischen Ansatz ein, bei dem man sich einen lebenswichtigen Mechanismus zunutze macht: Eine zu heiße Umgebung wird dem kleinen Organismus schnell gefährlich. Um nicht zu überhitzen lernen Fliegen daher sehr schnell, wo sich ein kühler Ort befindet. Sie erkennen diesen Ort anhand sogenannter „optischer Landmarken“ wieder. Da die Fliege in dem „Virtual Reality Setup“ ja nicht wirklich vom Fleck kommt, nutzen die Forschenden einen Trick: Sie wärmen die Fliege gezielt mit einem Wärmestrahl auf während sie läuft. Wird die Wärmequelle abgeschaltet, so merkt sich die Fliege das Aussehen dieses vermeintlich kühleren Ortes und ist nach mehreren Versuchsdurchläufen in der Lage, diesen immer schneller und ohne Umwege zu finden. Die Forschenden konnten so belegen, dass die Fliegen in diesem neuen Versuchsaufbau natürliches Verhalten zeigen und der Aufbau sich ideal dafür eignet, derartige Fragestellungen zu beantworten.
In einer anderen, kürzlich erschienenen, Arbeit konnte die Gruppe von Johannes Seelig bereits zeigen, dass sie über sehr lange Zeiträume stabile Messungen von Nervenzellen bei einer fixierten, auf einem Ball laufenden Fliege durchführen können. Die Forscher wollen nun beide Methoden kombinieren und die Aktivität von Nervenzellen über lange Zeiträume messen, während sich die Fliege in ihrer virtuellen Realität verhält. So wollen sie aufklären, welche grundsätzlichen neuronalen Mechanismen und Netzwerke hinter verschiedenen Verhaltensweisen von Insekten stecken.
Zur Originalpublikation (Volltext bis 20.08.2022 frei zugänglich