Forschungs-Nachricht
Bonn, 20. April, 2020. Eine Veröffentlichung in "Nature Communications" aus der Abteilung "Organisation des Gehirns und Verhaltens" (Prof. Dr. Jason Kerr) wirft neues Licht auf die Rolle der callosalen Leitungsbahn im visuellen System der Ratte (https://doi.org/10.1038/s41467-020-15672-4).
Das visuelle System ist verantwortlich für die Verarbeitung visueller Reize. Dazu gehören das Auge mit seiner Retina, der Sehnerv, Teile des Thalamus und des Hirnstamms, sowie die Sehrinde des Gehirns. Jeweils innerhalb einer Hemisphäre verfügen wir über einen visuellen Thalamus und eine Sehrinde. Diese Zentren arbeiten übergreifend - die meisten Informationen der Retina des linken Auges werden von der rechten Gehirnhälfte verarbeitet und umgekehrt. Einige wenige verbleibende Retinazellen leiten ihre Information jedoch nicht auf die andere Seite weiter, sondern stattdessen zum visuellen Thalamus und von dort zum visuellen Kortex der gleichen Hemisphäre.
Zu den Aufgaben des Gehirns zählt, die Informationen aus diesen vielfältigen Bahnen zu einer kohärenten Darstellung der das Lebewesen umgebenden Welt zu kombinieren. Das Corpus Callosum, auch „Balken“ genannt, übernimmt diese wichtige Funktion in der Verbindung der beiden Gehirnhälften: Das sich in ihm befindliche Verbindungssystem hat die wichtige Aufgabe der Informationsübertragung beider Hemisphären. Im rechten Occipitallappen wird die visuelle Information des linken Gesichtsfeldes verarbeitet. Das Corpus Callosum ermöglicht, dass beide Occipitallappen über einen sekundären Kommunikationsweg das Gesehene des ganzen Gesichtsfeldes miteinander austauschen können. Diese Verbindung bezeichnet man als visuelle callosale Leitungsbahn.
Als die Forscher die Rolle der callosalen Leitungsbahn im Sehsinn der Ratte näher untersuchten, ergab sich ein wesentlich komplexeres Bild als bisher angenommen. Die neue Studie zeigt, dass die visuelle Leitungsbahn auch Informationen von anderen Wegen überträgt: Informationen vom linken Auge, die die Mittellinie zunächst nicht überqueren, werden über den linken visuellen Thalamus und dann an die rechte Hemisphäre weitergeleitet. Auch wenn vorrangig die visuelle Leitungsbahn des rechten Auges nicht den rechten visuellen Thalamus betrifft, war es nicht möglich, Nervenzellen in der rechten Hemisphäre zu aktivieren, wenn die Forscher die Aktivität im rechten visuellen Thalamus blockierten. Das letzte Ergebnis ist besonders auffällig, da es darauf hindeuten könnte, dass der rechte visuelle Thalamus und die rechte visuelle Leitungsbahn vermutlich in koordinierter Weise agieren und vielleicht eine Steuerfunktion bei der visuellen Verarbeitung erfüllen könnten.
Die Studie von Prof. Dr. Kerr und seinen Kollegen über die visuelle callosale Leitungsbahn deutet an, dass ihre Struktur wahrscheinlich viel mehr als nur ein einfaches Verbindungssystem ist und eine wichtigere Rolle bei der visuellen Verarbeitung spielen könnte.