Wie nutzt eine Maus ihren Sehsinn, um eine Grille auf der Flucht genau ins Visier zu nehmen und schließlich zu fangen? Forscher des caesar haben rekonstruiert was ein Tier sieht, während es seine Beute aufspürt und verfolgt. Sie zeichneten die Augen- und Kopfbewegungen von Mäusen auf, die sich während ihrer Jagd auf Grillen frei im Raum bewegten. Zeitgleich wurden die Positionen der Mäuse sowie der Beutetiere in der Versuchsarena exakt vermessen. Ein neuer Ansatz zur Digitalisierung dieser Umgebung in Verbindung mit einer mathematischen Analyse ermöglichte es nachzustellen, was die Maus während ihrer Jagd sah. So gelang es, den "Blick durch die Augen der Maus" mit einem bestimmten Verhalten zu korrelieren. Die Forscher konnten zeigen, dass die Maus ihr Verhalten anpasst, um das Bild der Beute auf einem kleinen, spezialisierten Bereich der Netzhaut zu halten. Im Gegensatz zum Menschen kann sie ihre Augenposition jedoch nicht willkürlich bewegen. Dieser spezialisierte Bereich auf der Netzhaut entspricht zudem dem Bereich der geringsten bewegungsbedingten Unschärfe, wenn die Maus vorwärtsläuft. So erhält die Maus ein genaues Bild ihrer Beute, während sie diese verfolgt. Diese Entwicklung wird es Wissenschaftlern ermöglichen, zu verstehen, wie Tiere ihr Sehvermögen nutzen, um Entscheidungen in ihrer Umwelt zu treffen, und wie neuronale Schaltkreise im Gehirn dies in Wahrnehmung umsetzen.
Mäuse sind bei den meisten Aspekten ihres komplexen Lebens auf ihr Sehvermögen angewiesen. Beispiele sind die Orientierung in ihrem Lebensraum, die Verfolgung von Beutetieren, die Versorgung ihrer Jungen oder die Erkennung von Raubvögeln über ihrem Kopf. Mäuse haben ein großes Sichtfeld, das sich von der Rückseite des Kopfes bis unterhalb der Schnauze und auf beiden Seiten bis hinter den Kopf erstreckt. Anders als bei Menschen und anderen Primaten gleichen spezialisierte Augenbewegungen jede Kopfbewegung aus, um dieses „Panorama-Gesichtsfeld“ zu stabilisieren. Da Mäuse ihre Augen nicht willkürlich unabhängig von ihrem Kopf bewegen können, war eines bislang unklar: Welchen Teil des großen Sichtfeldes nutzen sie, wenn sie ein Beutetier verfolgen? Und welchen Vorteil hat das für die Maus?
Diese Frage kann nur durch Messungen an einer sich frei bewegenden, jagenden Maus beantwortet werden. Dr. Carl Holmgren und andere Mitglieder der Forschungsgruppe von Professor Jason Kerr am caesar in Bonn entwickelten eine Methode, die genau dies vermag. Sie zeichneten Augen- und Kopfbewegungen bei Mäusen auf, die sich während der Verfolgung von Grillen frei bewegten. Diese Messungen wurden mit einer digitalen, hochauflösenden Rekonstruktion der Versuchsarena kombiniert. So gelang es, eine detaillierte visuelle Karte aus Sicht der Maus zu erstellen. Es konnte direkt gemessen werden, wie sich Umgebung und Objekte relativ zueinander über die Netzhaut bewegen. Das Bewegungsmuster am Auge, das bei Bewegung eines Tieres entsteht, der sogenannte „optische Fluss“, konnte so quantifiziert werden. Darüber hinaus wurde das Verhalten der Maus während der Verfolgung der Grille genau überwacht. "Jetzt haben wir die Möglichkeit, die Aufzeichnung von visuell gesteuertem Verhalten mit den Einzelbildern zu korrelieren, die das Tier währenddessen gesehen hat. Wir können ein Verhalten in seine Bestandteile zerlegen und sehen, wo genau sich das Beutetier im Gesichtsfeld der Maus befand", erklärt Carl Holmgren.
Holmgren und seine Kollegen konnten mit ihrer neuen Methode zeigen, dass sich Mäuse, sobald sie eine Grille in einem beliebigen Teil ihres großen Sichtfeldes entdecken, zur Grille hin orientieren und dann direkt auf diese zulaufen. Hüpft die Grille davon, detektieren sie diese erneut und wiederholen genau dieses Verhalten. Die Position der Grille befindet sich während der Verfolgung hauptsächlich in einem kleinen Bereich des Gesichtsfeldes. Dieser entspricht einem spezialisierten Bereich auf der Netzhaut, von dem zuvor bereits angenommen wurde, dass er für die Verfolgung von Objekten von entscheidender Bedeutung ist. Dieser Bereich fällt zudem auch mit einer Netzhautregion zusammen, in der der „optische Fluss“ im Gesichtsfeld am geringsten ist. Folglich liegt das Bild der Grille genau in dem Bereich mit der geringsten bewegungsbedingten Unschärfe beim Vorwärtslaufen.
"Mit unserem neuen Ansatz können wir untersuchen, auf welchen Teil seines Gesichtsfeldes ein Tier achtet, wenn es komplexe visuell gesteuerte Verhaltensweisen ausführt. Der nächste Schritt besteht darin, die zugrundeliegende neuronale Aktivität mit unserem neu entwickelten, kopfgetragenen, Drei-Photonen-Mikroskop aufzudecken." sagt Professor Jason Kerr, Direktor der Abteilung Organisation des Gehirns und Verhaltens und derzeitiger Geschäftsführer von caesar.
caesar ist ein in Bonn ansässiges Forschungsinstitut für Neuroethologie. Wir untersuchen, wie aus der kollektiven Aktivität der Vielzahl miteinander vernetzter Neuronen im Gehirn tierisches Verhalten in seiner ganzen Bandbreite entsteht. Unsere Forschung findet auf verschiedensten Größenebenen statt und reicht von der Darstellung neuronaler Schaltkreise auf einer Nanoskala über deren großräumige, funktionelle Abbildung im Verhaltensprozess bis hin zur Quantifizierung natürlichen tierischen Verhaltens.
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